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Tansania: Lugala-Hospital

14.04.2020

Lugala zwischen Corona und Flut

Als ich heute Morgen aus dem Haus gehen wollte, kam Joram, unser gerade mal zwei Jahre alter Sohn, aus dem Schlafzimmer, hielt, wie üblich, seine halbvolle Nuckelflasche nur mit dem Nuckel im rechten Mundwinkel fest, so dass sie, ebenfalls wie üblich, hin- und her schwankte, ging wippend durch den Raum und aus seiner freien linken Mundhälfte tönte es rhythmisch: ‘Corona, Corona, Corona’.

Vor dem Haus traf ich einen Nachbarjungen, der etwa vier Jahre alt ist und der dort mit einem weiteren Jungen, der zwei oder drei Jahre alt sein dürfte, stand und ich hörte den grösseren Jungen zu dem kleineren sagen: ‘Unafaham Corona?’ (‘Kennst du Corona?’).

Im Malinyi Distrikt, für den das Lugala Spital das Referenzhospital ist, sind etwa 60% der Bevölkerung illiterat (dieser Begriff hat die alte Bezeichnung ‘Analphabeten’ ersetzt) und von denen, die sagen, dass sie lesen und schreiben können, können viele lediglich ihren Vornamen in grossen Frakturbuchstaben mühsam aufs Papier bringen. Gleichwohl, nicht nur die Kinder, auch der letzte illiterate Mensch in der ländlichen und armen Peripherie des Distrikts kennt vermutlich das Wort ‘Corona’ (von ‘Virus’ spricht niemand), obwohl selbstverständlich keiner diesen Nanopartikel an der Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur biologisch oder in seinem medizinischen Aspekt oder in seiner letztendlichen Bedeutung als Pandemie einzuschätzen vermag. Einen solch kometenhaft erfolgten Bekanntheitsgrad wie ‘Corona’ haben hier seinerzeit nicht einmal Messi oder Ronaldo für sich in Anspruch nehmen können.

Die Menschen hier fürchten zurzeit wohl nichts mehr als ‘Corona’. Ob nun aber ‘Corona’ wirklich die grösste Herausforderung dieses Kontinents ist, möchte ich dahingestellt sein lassen.

Dagegen nimmt die Bevölkerung hier die Überschwemmungen, die uns nun seit beinahe zwei Monaten von der Aussenwelt abschnüren, mit frappierendem Stoizismus, mit schicksalhafter Ergebenheit und Gelassenheit gegenüber dem Unabwendbaren, man muss sagen: mit dem hinreichend bekannten Fatalismus. Es handelt sich um ein Ereignis, das man, wenn auch nicht unbedingt im jetzigen Ausmass, aber im Grunde immerhin gewohnt ist. Dabei fällt dieses Jahr, wie schon einmal ein Jahr vor vier Jahren, aus dem Rahmen des zu Erwartenden. Der grosse Regen setzte ungewöhnlich früh ein, noch bevor die Menschen aussäen konnten und fortan regnete es über Wochen und ohne Unterlass und das Wasser stieg und stieg, so dass wir beispielsweise ums Spital herum letztlich einen Aktionsradius von maximal 1.2 km hatten und noch bis heute haben. Die Hauptstrasse nach Ifakara ist unpassierbar, die in die umliegenden Dörfer führenden Pisten und Wege sind sämtlich weggeschwemmt, die Brücken alle weggerissen, die erst im letzten Jahr angelegten Drainagesysteme durch die Strömung des von allen Seiten hereinbrechenden Wassers davongetragen. Die dörflichen Habitate aus Lehmwänden und Stroh- oder Wellblechdächern stehen im Wasser, Kinder sind ertrunken und unsere Projektmitarbeiter waten morgens bis zu den Knien durchs Wasser zum SolidarMed-Büro und genauso abends wieder nach Hause.

Die Situation hat, obwohl ihr mit solch bewundernswerter Ruhe begegnet wird, einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Leben der Menschen und vor allen Dingen auf ihre Ernährungslage. Hier im Kilomberotal ist Reis das Grundnahrungsmittel. Es gibt keine Terrassen für Reisanbau wie in Asien und es werden auch nicht in unermüdlicher Kleinarbeit Pflänzchen gesetzt. Das tief gelegene und weite Flusstal wird jährlich in der grossen Regenzeit, die etwa von Februar bis Mai dauert, überschwemmt, und die Menschen säen, bevor der Regen einsetzt, aus der letzten Ernte zurückbehaltenen Reis aus. Nur, wie gesagt, in diesem Jahr, wie schon einmal zuvor, setzte der Regen vor aller Erwartung ein und gegen alle Erwartung hörte er auch wochenlang nicht auf. Somit war der Mais ohnehin nicht mehr zu retten und der Reis konnte nicht auf den Weg gebracht werden.

Die Situation wird zu einer Verschlimmerung der chronischen Mangelernährung führen. Chronische Mangelernährung, die auf beinahe ausschliesslich aus Kohlenhydraten zusammengesetzte, nicht diversifizierte, eben sehr einseitige Ernährung zurückzuführen ist, betrifft bereits 48% der tansanischen Bevölkerung. Sie drückt sich nicht in aufgetriebenen kindlichen Hungerbäuchen aus, wie wir sie aus Biafra oder Darfur kennen, sondern in einer Retardierung des Wachstums: die Menschen behalten eine kleine Körperstatur. Hinzu kommt, dass der Verdauungstrakt insbesondere der Kinder von Würmern und anderen Darmparasiten befallen ist und dass wiederum insbesondere die Kinder, aber auch die schwangeren Frauen unter Blutarmut leiden - abgesehen von sporadisch hinzukommenden Krankheiten wie Malaria und Atemwegs- und akuten bakteriellen Darminfekten. All das führt zu chronischer körperlicher Schwäche und eingeschränktem Wachstum der Kinder und schlechten schulischen Leistungen.

Der Unterschied in der Wahrnehmung von ‘Corona’ auf der einen und der allgemeinen Armut und ständig bedrohten und chronisch eingeschränkten Gesundheit auf der anderen Seite dürfte sein, dass die Menschen in Armut gross geworden sind und in Armut leben und die ihnen bekannten Krankheiten wie z.B. Malaria zu ihrem Leben gehören und sie ihnen deshalb mit der ihnen üblichen Gelassenheit begegnen, während ‘Corona’ als eine unbekannte von aussen kommende Gefahr bedrohenden und nicht einschätzbaren Ausmasses angesehen wird.

 Lugala, März 2020, Dr. Peter Hellmold

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